Akademieausgabe

Überblick

Wilhelm Dilthey und andere konnten 1894 die in Berlin ansässige Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften motivieren, eine umfassende Kant-Ausgabe zu veranstalten. Die ab 1900 veröffentlichten Bände von „Kant’s gesammelten Schriften“ – späterhin teils in zweiter, veränderter Auflage in mehrfachen photomechanischen Nachdrucken erschienen –, wurden in vier Abteilungen gegliedert:

I: Werke (Bde. I–IX)

II: Briefwechsel (Bde. X–XIII, Nachtrag in Bd. XXIII)

III: Handschriftlicher Nachlass (Bde. XIV–XXIII)
(Handbücher zu Vorlesungen)

IV: Vorlesungen (Bde. XXIV–XXIX, noch nicht abgeschlossen)
(Vorlesungen 1770–1796)

Mit der Bearbeitung der Abteilung I (Werke) wurden einzelne Fachleute beauftragt. Die Bände I–VIII erschienen 1902–1912 in erster und ab 1910 mit aktualisierten sachlichen Erläuterungen in zweiter Auflage. Lediglich der Text von „Die Metaphysik der Sitten“ (Band VI) erfuhr Veränderungen. Der letzte Band der Abteilung I, der drei „Werke“ („Logik“, „Physische Geographie“, „Pädagogik“) enthält, die nicht von Kant selbst, sondern in den Jahren 1800–1803 von jüngeren Königsberger Kollegen (Gottlob Benjamin Jäsche und Friedrich Theodor Rink) in seinem Auftrag bearbeitet worden sind, wurde 1923 erstmals veröffentlicht. Die Taschenbuchausgabe der Werke (de Gruyter, erstmals 1968) stellt einen Reprint teils der ersten, teils der zweiten Auflage der Abteilung dar. Die zwei 1977 angeschlossenen Bände „Anmerkungen“ bieten stets die zugehörigen Einleitungen und Apparate nach der zweiten Auflage.

Die Bände der Abteilung II (Briefwechsel) gab Rudolf Reicke heraus, die der Abteilung III (Nachlass) Erich Adickes. Da noch während des Erscheinens der ersten Auflage des Briefwechsels (1900–1905) eine erhebliche Anzahl weiterer Briefe aufgefunden wurde, sind 1922 zeitgleich mit den erstmals veröffentlichten sachlichen und philologischen Erläuterungen (Band XIII) die Brief-Bände X–XII in erweiterter zweiter Auflage ediert worden. Die Veröffentlichung der Bände von Abteilung III (Nachlass), die 1911 begonnen hatte, zögerte sich nach dem Tod von Erich Adickes bis 1955 hinaus. Aufgrund des Verlustes vieler handschriftlicher Originale gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mußte die Abteilung III inhaltlich unabgeschlossen bleiben. Der „Schlussband“ der Abteilung stellt daher ein formelles Ende dar.

Weitgehend unbestimmt war anfangs die Konzeption der Abteilung IV (Vorlesungen). Die Grundlage der Edition sind meist handschriftlich überlieferte studentische Nachschriften, deren Zuverlässigkeit erst überprüft werden musste. Aus verschiedenen Gründen wurde die Arbeit im Jahr 1920 eingestellt, ohne dass ein Band erschienen war. Mitte der 50er Jahre griff die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin die ursprüngliche Gesamtkonzeption der Ausgabe wieder auf und übertrug Gerhard Lehmann die Abteilung IV; 1961 erschien ein Teilband „Vorlesungen über Enzyklopädie“ außerhalb der Akademie-Ausgabe. Nach dem Bau der Berliner Mauer erklärte sich 1962/63 die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen bereit, die Arbeit an der Abteilung IV im Benehmen mit der Berliner Akademie fortzusetzen. Der Band XXIV („Vorlesungen über Logik“) wurde als erster Band dieser Abteilung 1966 herausgegeben. 1987 beschloss die Kant-Kommission der Göttinger Akademie die Kant-Arbeitsstelle von Berlin an die Marburger Philipps-Universität zu verlagern. Von Reinhard Brandt und Werner Stark ist 1997 der Band XXV („Vorlesungen über Anthropologie“) fertiggestellt und veröffentlicht worden.

Seit 2002 war die Gesamtausgabe der Schriften Kants ein Akademienvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mit der Übernahme in die Verantwortlichkeit der Berlin-Brandenburgischen Akademie hatte sich auch ein Wunsch der Göttinger Akademie der Wissenschaften erfüllt. Die Kant-Arbeitsstelle in Potsdam konzentrierte sich auf drei Vorhaben: die Neuedition der „Critik der reinen Vernunft“, der „Critik der practischen Vernunft“ und der „Critik der Urtheilskraft“ (Abteilung I), die Neutranskription, elektronische Publikation und historisch-kritische Neuedition des unter dem Titel „Opus postumum“ bekannt gewordenen Nachlasswerks Kants (Abteilung III) und die Edition der Kantischen Vorlesung über „Physische Geographie“ (Abteilung IV). Der erste von zwei Teilbänden dieser Nachschriften liegt seit 2009 vor (Band XXVI.1); der zweite Teilband (Band XXVI.2) ist im Herbst 2020 erschienen. 
Außerdem werden erstmalig Kants handschriftliche Anmerkungen in seinem Handexemplar von Alexander Gottlieb Baumgartens „Metaphysica“ (3. Aufl., Halle 1750) ediert. Sie sind Teil der Edition eines Schlussbandes der Nachlass-Abteilung, der auch den nicht zum „Opus postumum“ gehörenden Manuskriptbestand und die seit 1955 neu gefundenen und außerhalb der Akademie-Ausgabe publizierten „Losen Blätter“ enthalten soll. Hinzu kommt in einer separaten Ausgabe die Edition sämtlicher Vorlesungsnachschriften von Johann Gottfried Herder. Damit soll die Ausgabe wieder die internationale Referenzausgabe für die wissenschaftliche Forschung werden.